„Sie glauben ja gar nicht, was Sie verpassen.“

Dr. Stephan Schwabe ist Orthopäde und Unfallchirurg in der orthopädischen Praxis im Medicenter. Wenn er Urlaub macht, verbringt er den selten im Liegestuhl. Er läuft lieber
100 km durch das Atlasgebirge. Uns hat er erzählt, wie es dazu kam und warum er nicht mehr aufhören kann.

Ein Ultramarathon ist jedes ­Rennen, das länger als die Marathondistanz ist. Die beliebtesten sind 100 km und die längsten über 800 km lang. Wer Wikipedia aufruft, findet eine Liste mit sage und schreibe 60 Läufen in Deutschland und weiteren 100, die weltweit veranstaltet werden. Darunter sind auch solche, die Wüsten durchqueren, den kambodschanischen Dschungel oder die Antarktis. Eine große Community vereint Menschen mit dem Ziel, weit aus ihrer Komfortzone herauszutreten.

Herr Dr. Schwabe, Sie laufen bis zu 100 km durch unwegsames und unbekanntes Gelände. Können Sie uns ‚anderen‘ erklären, warum?

StS „Als ich 45 wurde, habe ich mir überlegt: ‚Jetzt müsste ich mal einen Marathon laufen, das wollte ich immer schon einmal machen.‘ Ich lief zwar schon regelmäßig seit ich 14 war. Aber einen Marathon hatte ich mir bis dato nicht zugetraut. Also: Wenn nicht jetzt, wann dann?! Ich war ohne Erkältung und mit regelmäßigem Training im Fitnessstudio durch den Winter gekommen und meldete mich für den Köln-Marathon im Oktober an. Ohne viel Trainingstheorie nahm ich an einem 10- km-Lauf teil und machte ein Mal pro Woche Krafttraining. Dann kam der erste Halbmarathon, also eine Strecke von 21  km. Es lief gar nicht gut, ich war unter den letzten, die ins Ziel kamen und dass ich unter ‚Haus der Gesundheit‘ angemeldet war, wurde beim Zieleinlauf genüsslich mit den Worten kommentiert: ‚So gesund sieht er ja nicht mehr aus!‘

Inzwischen hatte ich mich in die Materie etwas eingelesen und wusste: Man läuft vor einem Marathon nur wenige 30 -km-Läufe und die auch nicht mehr ganz kurz vorher. Ich habe das natürlich ignoriert und eine knappe Woche vor dem Termin allein einen 42-km-Lauf gemacht …
Das war so schlimm, dass ich, zuhause angekommen, zwei Stunden im Stuhl gesessen habe, bevor ich duschen gehen konnte. Mein komplettes Umfeld hat den Kopf geschüttelt. 

Eine Woche später war dann der Marathon und ich war schrecklich aufgeregt. Ich hatte mir eine Zeit von 4:15 h vorgenommen und mich entsprechend in diese Läufergruppe eingereiht. Die ersten zwei Stunden waren okay. Gegen Ende wurde es aber richtig schlimm und alles tat weh. Zum Schluss hat mich zwar die Euphorie auf der Hohe Straße ins Ziel getragen und ich habe erst nach dem Zieleinlauf gespürt, dass ich vor Schmerzen im Fuß kaum noch laufen konnte. Aber den langen Weg zur Umkleidezone habe ich dann im Treck der Versehrten zurückgelegt und zum Auto konnte ich mich nur noch schleppen. Zwei Wochen bin ich daraufhin mit Krücken durch die Praxis gehumpelt und musste mir natürlich viel Spott und Häme anhören.“ 

Waren Sie danach nicht frustriert? 

StS „Überhaupt nicht: Ich hatte es gemacht und war darüber so guter Dinge, dass ich mich noch mit Krücken zum Tough-Mudder-Lauf in Berlin meldete. Aber Matsch, Eiswasser und 3-m-Sprünge in Brackwasser waren nichts für mich und das war der erste und letzte Lauf dieser Art. Dann lieber noch einen Marathon, dieses Mal in Bonn. Der lief richtig gut und ich schaffte ihn unter 4 Stunden. Danach bin ich nochmal in Köln mitgelaufen und dann kam Berlin. Das war fürchterlich. Viel zu voll, ein einziges Gedränge und danach hatte ich einfach keine Lust mehr auf Stadtmarathons. Ich wollte nicht nach Boston und nicht nach New York. Ich war auf der Suche nach etwas anderem.

Im Internet bin ich dann auf einen ganz preiswerten Lauf in Marokko gestoßen. Das Startgeld von nur 350 € und die Landschaftsbilder haben mich ge­lockt … Meine Frau war einverstanden, also habe ich mich mit einem Kumpel zusammen angemeldet. Erst auf der Reise wurde uns dann klar, dass wir während dieses Laufs dreimal über einen 3.200 m hohen Berg laufen. Da wurden wir ziemlich blass.“ 

 

 

Das war Ihr erster „Ultra Trail Atlas Toubkal“ (UTAT)? 

StS „Genau, aber noch nicht der Ultra, sondern die kurze Distanz über 42 km. Wir kamen an und die Landschaft, die Berge, alles war atemberaubend – und sehr spartanisch. Wir bezogen unser Zelt und waren erstaunt, wie kalt es in Marokko werden kann, vor allem nachts! Dann ging das Ganze leider nicht gut los für mich: Am frühen Morgen, noch vor Tages­anbruch, wollte ich mich schon etwas warm laufen und noch kurz hinterm Busch verschwinden. Dabei trat ich prompt in ein Loch und knickte um. Das Sprunggelenk tat höllisch weh und als ich zurück ins Licht humpelte, stellte ich fest, dass ich auch noch eine Kontakt­­linse verloren hatte.

Wenn‘s einmal läuft! Mit bandagiertem Fuß konnte ich zwar auftreten, solange der Untergrund gerade war. Kam ich aber etwas schräg auf, knickte mir das Knie weg – und das kommt bei diesen Wegen, die eigentlich keine sind, ziemlich oft vor. Schon ohne die Fußverletzung wäre mir das Laufen in dem Gelände sehr schwergefallen. 

Wir liefen bzw. gingen also los, waren aber natürlich dramatisch langsam. Die üblichen vier Stunden waren für uns utopisch. Unglücklicherweise haben wir uns dann auch noch verlaufen, weil wir eine Markierung verpasst hatten. Eine Stunde bergab in die falsche Richtung, eine Stunde wieder bergauf. Danach hatten wir kein Wasser mehr. In unserem Rücken fühlten wir den Kehresel immer näherkommen (Anmerk.: es gibt dort natürlich keinen Kehrbus wie beim Stadtmarathon, sondern einen Esel!). Nicht nur das Sprunggelenk, einfach alles tat weh. Wir sind dann ganz langsam zur nächsten Versorgungsstation gegangen – und wie durch ein Wunder: Nach dem Genuss von genügend euphorisierender, lauwarmer Cola fühlten wir uns wieder fit. 

Wir füllten unsere Wasservorräte auf und machten uns auf den Weg, der uns nach der nächsten Kurve eine unfassbar steile Dorfstraße hinaufführte, eine Straße wie eine senkrechte Wand, wie der Mont- blanc. Wir konnten diese Straße tatsächlich nur auf Händen und Füßen überwinden und danach ging es noch mehrere Stunden weiter steil in die Berge. Zum Schluss haben wir weit über zwölf Stunden gebraucht und – im Ziel angekommen – mussten wir so schnell wie möglich zum Taxi rennen, um unseren Heimflug zu erwischen. Ein legendärer Auftritt! Am Flughafen hatte der Toilettenmann solches Mitleid mit mir und meinen geschwollenen Gelenken, dass er spontan die Behinderten­toilette für mich aufschloss.“ 

Die armen Gelenke. Ist das eigentlich gesund? Und ist es nicht verrückt, nach dem ganzen Schmerz wieder antreten zu wollen? 

StS „Ach, das Umknicken ist natürlich nicht gesund, aber die Schwellungen gehen ja wieder vorbei. Und die Schmerzen in diesem Moment waren ja auch nur muskulär. Das regeneriert sich wieder. Also war der UTAT im nächsten Jahr wieder dran und das hat auch schon deutlich besser geklappt. Nach dem zweiten Mal hatte ich endgültig Blut geleckt und ich entschied mich, im darauffolgenden Jahr nicht nur die Marathondistanz zu laufen, sondern den kleinen Ultra mit 62 km. Das ist an einem Tag ein Marathon plus am nächsten Tag noch ein Halbmarathon dazu. Und auch das lief überraschend gut und gefiel mir eigentlich viel besser als der Marathon, weil man einfach entspannter ist und weil es nicht um Zeiten geht, sondern um das Erlebnis und den Weg. Und weil die Ultraläufer eine ganz tolle, kleine Gemeinschaft bilden. Man kennt sich, trifft sich immer wieder und spornt sich gegenseitig an. Von da an war die Teilnahme an Marathons nur noch Vorbereitung für die Ultras.“

Läuft man bei einem Ultra denn komplett durch oder gibt es auch Phasen, in denen man geht?

StS „Die Profis, für die die Zeit zählt, laufen natürlich durch. Aber wir ‚Normalos‘ laufen auf gerader Strecke und bergab und gehen bergauf. Denn beim Bergauflaufen verbrauchen sie zu viel Energie. Sie laufen generell so langsam, dass sie sich immer unterhalten können. Das ist viel entspannter und kommunikativer, als beim Marathon, weil sie ja viel mehr Zeit haben. Im hinteren Drittel des Feldes verbringen sie zehn Stunden miteinander und lernen sich kennen. So tauscht man sich über immer neue Läufe aus – auch über Facebook – und steigert sich von Mal zu Mal.“ 

Wie läuft so ein Ultralauf in Deutschland ab? 

StS „Bei meinem ersten 70-km-Lauf fuhren wir z. B. mit dem Bus an den Rhein und liefen ohne Wegmarkierung in den Taunus – nur mit Hilfe des GPS-Geräts bzw. der Handy-App. Das macht es manchmal auch zum Orientierungslauf.“ 

Dann fühlten Sie sich irgendwann fit genug für die 100-km-Distanz beim UTAT in Marokko?

StS „Genau: 6.500 Höhenmeter (viermal über die Zugspitze!) und der höchste Berg ist 3.700 m hoch – ohne zu schlafen. Das klingt schrecklich, ist es auch. Der erste Teil der Strecke war mir ja von der Marathonstrecke bekannt. Doch danach habe ich irgendwann einen Abzweig verpasst, denn ich hatte die Navigationskarte verloren, das Handy war leer und das Aufladen mit meinem Akkupack funktionierte nicht. Das war natürlich fatal …“

War denn niemand bei Ihnen? 

StS „Nein, bei einem 100-km-Lauf ist das Leistungsgefälle so groß, dass sich das Feld sofort nach dem Start verläuft. Da starten 50 Leute, die Schnellsten sind nach zehn Stunden im Ziel. Ich lief also ohne ­Orientierung über eine Stunde im Kreis und kam wieder an der Versorgungsstation an, an der ich losgelaufen war. Damit mir das nicht wieder passierte, ließ ich mich von den Eselläufern, die das Schlusslicht bilden, eskortieren. Dadurch war ich dann aber viel zu langsam und wurde aus dem Rennen genommen, weil ich an der nächsten Kontrollstation zu spät dran war. Wir mussten daraufhin im ­Oktober auf 3.000 m übernachten und waren nur mit einer stinkenden Eselsdecke versorgt. Kälte und Gestank haben diese Nacht zur schlimmsten meines Lebens gemacht. Wir stiegen am nächsten Tag ab und kamen nach einer Busfahrt mit den Läufern ins Ziel – und ich war völlig frustriert. Ich MUSSTE im nächsten Jahr nochmal ran!“

Das scheint der Trick zu sein: dass Sie aus Frustra­tion Motivation machen … 

StS „Ja klar, das kann ich ja so nicht stehen lassen! Ich habe zuhause sofort angefangen, bewusst dafür zu trainieren, indem ich stumpf Berge raufgelaufen bin, immer wieder. Das macht keinen Spaß, hilft aber. Und ich bin fünf bis sechs kleinere Ultras gelaufen, um Erfahrung zu sammeln – z.B. dahingehend, was ich essen kann, ohne dass mir schlecht wird. 

Um mich selbst, Familie und Freunde zu beruhigen, kaufte ich mir einen GPS-Tracker, der im schlimmsten Fall die marokkanischen Rettungsmannschaften auf mich aufmerksam gemacht hätte. Und ich gönnte mir eine Wasserfilteranlage, um das Wasser, das ja in den Bergen überall verfügbar ist, trinkbar zu machen.“


Und lief es dann besser?

StS „Im ersten Teil des Rennens gab ich alles und schaffte es früh genug zum Kontrollpunkt, wo ich begeistert von den Leuten begrüßt wurde, die mich noch aus dem letzten Jahr kannten. Als es Nacht wurde, hatte ich mich mit zwei anderen Läufern zusammengetan, was auch ganz angenehm war. Denn da können einen hundert Augenpaare, die plötzlich in der Dunkelheit leuchten, ziemlich erschrecken – auch wenn es nur Schafe sind.

Leider bin ich immer noch kein guter Bergläufer und die Strecke hat es wirklich in sich. Luftnot und Schwindel begleiteten mich permanent bei den steilen Anstiegen – ich bin wohl das Gegenteil von Reinhold Messner – und es war so kalt, dass die anderen Läufer nicht immer auf mich warten konnten. Auch bergab war es nicht ungefährlich, denn der ganze Berg bestand sozusagen aus Kies und machte den Abstieg so sehr zur Rutschpartie, dass ich völlig entkräftet und mit zitternden Beinen unten ankam. Für die letzten 20 km brauchten wir noch acht Stunden und egal, wie weit Sie laufen – die letzten 5 km sind immer die schlimmsten.

Am Ende kam ich nach 32 Stunden ins Ziel. Danach war ich so fertig, dass ich alles an den Nagel hängen wollte. Aber nach zwei Wochen gab es nur noch einen Gedanken: Nächstes Mal bleibst Du unter 30 Stunden!“

Dann werden Sie nächstes Jahr wieder in den Atlas reisen?

StS „Natürlich. Bis dahin laufe ich zur Vorbereitung noch den Zugspitz-Ultra und im Sommer geht‘s durch die Wüste in der Mongolei.“

Ich wünsche Ihnen für alle zukünftigen Läufe
toi, toi, toi, beglückwünsche Sie zu Ihrem Kämpferherz und bedanke mich sehr für das kurzweilige Gespräch!

Tipps für die Ultra-Distanz

/ Tragen Sie Schuhe, die zwei Nummern größer sind als Ihre normalen Laufschuhe. Bei Distanzen über 50 km schwellen Ihre Füße so stark an, dass Sie es brauchen werden.

/ Laufen Sie unbedingt langsam. Immer so, dass Sie sich unterhalten können.

/ Finden Sie heraus, was Sie bei großer Anstrengung noch essen können, ohne dass Ihnen schlecht wird. Bei mir funktioniert eine vegane Schokolade, andere vertragen Honig sehr gut.

/ Achten Sie gut auf den Weg, denn Verlaufen kostet viel Kraft.

MEHR INFOS

FOLLOW: Stephan Schwabe
ist aktiv auf Facebook®

Kalender mit Ultras in Deutschland:
http://www.runnersgate.de

Offizielle Seite des UTAT:
http://www.atlas-trail.com

Deutscher Ansprechpartner:
Oliver Binz, utat.ger@atlas-trail.com

Auszug aus Good Times 01
Interview: Jutta Mundus
Fotos: UTAT Ultratrail Atlas Toubcal, privat